Die Montage des Autobiografischen
Ein Gespräch mit der Gewinnerin des Filmstiftung NRW Schnitt Preis Spielfilm 2018, Ingrid Koller, ausgezeichnet für die Montage von Die beste aller Welten, Regie: Adrian Goiginger
Mit Die beste aller Welten hat der zu Drehbeginn 25-jährige Regisseur Adrian Goiginger seinen ersten »professionellen« Langspielfilm gemacht (nach seinem noch zu Schulzeiten entstandenem 105-minütigem Drama Unforgettable). Du hingegen bist 40 Jahre älter als Goiginger, und kannst auf eine lange und vielseitige Karriere als Filmeditorin zurückblicken. Wie seid ihr für dieses Projekt zusammen gekommen?
Ingrid Koller: Adrian und ich kannten uns vorher überhaupt nicht. Aber ihm gefiel eine österreichische Serie, die ich geschnitten habe: MA 2412. Das ist eine Sitcom, mit Roland Düringer und Alfred Dorfer. Als die Frage anstand, wer bei Die beste aller Welten den Schnitt machen könnte, sagte er zu seinem Produzenten Wolfgang Ritzberger, er möchte die Editorin von MA 2412 kennenlernen (lacht). Wir haben uns getroffen und fanden uns sofort sympathisch.
Ich hab dann während der Arbeit mit ihm nie empfunden, dass er jemand wäre, der noch wenig Erfahrung hat. Er hat genau gewusst, was er will. Und wie er etwas will. Trotzdem hat er es auch gut annehmen können, wenn ich einen Vorschlag gemacht hab, wie man etwas besser erzählen könnte.
In dem Film erzählt Adrian Goiginger seine eigene Kindheit als siebenjähriger Sohn einer heroinsüchtigen Mutter, die sich trotzdem – so gut sie kann – liebevoll um ihn kümmert. Also ist er natürlich mit seiner Erzählung auf intimste Weise verbunden. Was bedeutete das für Eurer Arbeitsverhältnis? War er z.B. auch an Deiner Meinung zum Drehbuch interessiert?
Ingrid Koller: Normalerweise lese ich keine Drehbücher (lacht). Weil ich finde, dass da nicht alles drin steht, was gedreht wird. Und was ich dann an den Schneidetisch geliefert bekomme, ist wieder etwas anderes, also brauche ich das Drehbuch nicht lesen! Aber ja, bei diesem Film hat mich Adrian gebeten, ihm eine Rückmeldung zum Drehbuch zu geben, also musste ich es lesen. Und dann habe ich ihm gesagt, was mir zu lang vorkam oder was ich zu kurz fand, was nicht klar genug erzählt ist.
Diese Anmerkungen hat Adrian auch alle aufgegriffen, mit einer Ausnahme. Es gab eine Szene, die ich ganz weggelassen hätte: Die Mutter ist in einem Porno-Video-Studio angestellt, und verbietet ihrem Sohn, einen der dort gedrehten Filme anzuschauen. Er darf nur den Anfang sehen, dann dreht ihm die Mutter das ab. Also spinnt er sich in seiner Fantasie die Geschichte weiter. Aber nicht als Porno, sondern als eine Actionszene: Es kommen böse Leute dazu und schießen herum. Ich hab Adrian gesagt, diese Szene bringt den Film nicht weiter; sie erzählt nichts Neues über die Mutter, und dass der Junge träumt wissen wir auch schon. Da genügen seine Alpträume von dem Monster. Noch eine zusätzliche Traumebene fand ich unnötig.
Aber es gab mehrere junge Leute im Stab, die ganz begeistert waren von der Szene und meinten, die muss rein: »Das wird vor Greenscreen gedreht, die Schießerei ist wie ein Videospiel, das wird ganz toll!« (lacht) Und ich hab gesagt, das wird nichts. Aber sie haben die Szene trotzdem gedreht, und wir haben sie hin und her in den Schnitt gesetzt, bis Adrian eingesehen hat: Sie bringt die Geschichte nicht weiter. Daraufhin haben wir sie komplett rausgeschnitten.
Die Einschübe mit dem Monster und dem Steinzeit-Ronan kommen an acht Stellen im Film vor. Zuletzt ist das Monster dann in der Wohnung selbst; Realität und Wahn vermischen sich. Wie war der Umgang in der Montage mit dieser Erzählebene?
Ingrid Koller: Ich hab mir Anfangs Gedanken gemacht, wie ich diese Szenen so einbringe, dass sie nicht stören, dass sie ein Teil der Geschichte sind. Das war schon etwas problematisch; ich wollte nicht, dass sie wie ein Fremdkörper wirken, sondern dass sie ein Teil des Jungen sind. Denn das Monster verkörpert die Angst des Jungen vor der Heroinsucht seiner Mutter. Also ging es vor allem darum, die Übergänge wirkungsvoll zu bauen. Einige dieser Szenen waren länger; wir haben sie dann gekürzt und auch ein bisschen an andere Stellen verschoben.
Welche Art der Zusammenarbeit hattet ihr während der verschiedenen Etappen des Schnitts?
Ingrid Koller: Also, ich arbeite immer so: Den Rohschnitt mache ich allein. Während der Dreharbeiten alles schneiden, und nach dem Ende der Dreharbeiten dem Regisseur den fertigen Rohschnitt zeigen. Da ist dann jede Szene drinnen, da kürze ich nichts vorher, und meistens ist es zu lang, das ist eh klar.
Die Dreharbeiten waren in Salzburg, also fand der Rohschnitt auch dort statt. Und dann sind wir nach Wien gezogen. Das war lustig, denn der Produzent Wolfgang Ritzberger hatte zwar einen Avid, aber sein Büro wurde umgebaut, also brauchten wir einen Raum, wo wir den Avid aufstellen konnten. Es gibt in Wien das Postproduktionshaus Listo, was auch eines der letzten noch bestehenden Kopierwerke ist, die früher auch alles rund ums Negativ gemacht haben. Ich hab die Besitzerin angerufen, und gefragt, ob sie einen Raum für mich hätte. Und dann hat sie im ganzen Haus gesucht und uns einen Raum gegeben, wo früher der Negativschnitt ausgeführt wurde. Da stand noch der Umroller drinnen. Auf den haben wir eine Platte gelegt, und den Avid drauf gestellt. Rechts und links davon waren noch die ganzen Tische und Utensilien für den Negativschnitt. Da hingen noch 16mm und 35mm Streifen rum. Es war komisch, weil die digitalen und analogen Filmwelten so eng beisammen waren, obwohl sie eigentlich nichts mehr miteinander zu tun haben. Und die Ludwigsburger Kommilitonen von Adrian, die uns im Schneideraum besuchten, haben teilweise zum ersten Mal gesehen, wie so etwas früher ausgeschaut hat.
Ab der zweiten Schnittphase war Adrian dann jeden Tag dabei. Es gab bloß eine Szene, die er nie anschauen wollte: Wo der von Michael Pink gespielte »Grieche« den Jungen zwingt, Wodka zu trinken. Adrian hat mich immer gebeten, dass wir die Stelle überspringen. Die muss ihm von seiner Kindheit her noch so schmerzhaft in Erinnerung geblieben sein. Es hat lange gedauert, aber irgendwann haben wir sie ja mal anschauen müssen, um zu gucken, ob der Schnitt so für ihn in Ordnung war.
Es gibt ja viele herausragende schauspielerische Leistungen im Film, allen voran von Verena Altenberger als Mutter, und Jeremy Miliker als Sohn. Wie war die Ausgangslage im Material für diese beiden Figuren?
Ingrid Koller: Die Verena und der Jeremy sind beide aus Salzburg; das war für den Adrian wegen des Dialekts wichtig. Die beiden haben sich bereits ein Dreivierteljahr vor dem Dreh jede Woche einmal getroffen, sind ins Kino gegangen oder ein Eis essen, um eine Beziehung aufzubauen. Und das merkt man im Material, dass die eine gute Beziehung haben.
Es wurde immer mit zwei Kameras gedreht, zwei Handkameras. Dadurch gab es auch eine Menge Material. Zwei Kameras können ja ein Vorteil und ein Nachteil sein. Der Vorteil ist, du hast mehr Möglichkeiten – und der Nachteil ist, du hast mehr Möglichkeiten! (lacht)
Die Verena hat durchgehend so gut gespielt, dass man immer bei ihr bleiben konnte. Dass was einen Schauspieler ausmacht, ist für mich: Man sieht im Gesicht, was er sich denkt. Und das war bei der Verena wirklich fantastisch. Also z.B. bei der ersten Szene, wo der Jugendfürsorger kommt, und sie sagt, sie ist nicht süchtig. Bei dem was sie dabei im Gesicht zeigt, brauchst Du nicht das Gegenüber. Wir bleiben auf ihr und zerstören nicht den Moment mit seinen Fragen im On. Sie spielt diese Fragen mit und es ist ganz toll. Oder beim Kindergeburtstag, wo sie glücklich ist, dass alles gut gelaufen ist. Wo sie am Ende kniet, weil sie gerade den Kleinen umarmt hat. Und dann nach einer Weile aufsteht und sich Drogen holt. Da war auch klar, dass man das so lange ungeschnitten auf ihr lässt, damit man erkennen kann, was sich in ihrem Kopf abspielt.
Der Jeremy, der den siebenjährigen Adrian spielt, kannte das Drehbuch nicht. Bei den Szenen in denen er mitspielt, hat man ihm erklärt was darin vorkommt. Und er konnte darauf reagieren wie er wollte. Auch auf den Text. Bestimmte Anleitungen hat er bekommen, durfte darauf aber mit eigenen Worten reagieren.
War es denn kompliziert, den improvisierenden Jeremy mit der nicht improvisierenden Verena zusammen zu montieren?
Ingrid Koller: Ja, durchaus. Aber Jeremy hat das schon toll gemacht. Zum Beispiel kommt er ja vom Kinderhort mit einer blutigen Nase nach Hause, und sagt: »Wegen Dir ist meine Kindheit im Arsch«. Den Satz hat Jeremy selber erfunden. An anderen Stellen hat man ihn mit kleinen Hilfen auf die Spur gebracht. Zum Beispiel als die Mutter ihm sagt, dass er in den Hort muss, da wäre Jeremy nie ausgeflippt. Also hat Verena ihm gesagt: »Ich nehm’ Dir Dein ganzes Spielzeug weg!«. Da ist er ausgeflippt! (lacht)
Oder man hat ihn überrascht. In der Szene mit dem Wodka hat er nicht gewusst, dass er angeschüttet wird.
Es war natürlich immer ein Kinderpsychologe am Set, für den Fall, dass Jeremy etwas nicht verkraftet. Seine Eltern waren auch immer am Set. Also er war schon gut eingebettet.
Was war denn sonst eine Herausforderung bei der Montage?
Ingrid Koller:Schwierig war der Anfang. Der war ganz normal gedreht. So das man alle im Bild hat, und überall mit dem Jungen hingeht. Da muss er also rüber zu dem, und dann muss er wieder dorthin und dorthin, usw. Im Grunde nur um darzustellen, dass es ihm gut geht. Und das war langweilig, das war zu ausgespielt. Das haben wir ein paar mal umgeschnitten, bis wir drauf gekommen sind, dass Montage-artig zu machen; es elliptischer zu erzählen. Erst dann hat es einen Sog bekommen.
Zum nächtlichen Teil der Anfangssequenz hatten wir vom Testpublikum die Rückmeldung, dass nicht klar wurde, ob die Mutter wirklich an der Nadel hängt. Weil man sieht sie ja nur mit dem halben Oberkörper, und sie spielt das mit ihrem Gesicht. Da haben etliche gesagt, sie verstehen nicht ganz, was sie da macht. Aber der Adrian wollte keinesfalls, dass irgendwo im Film eine Heroinspritze vorkommt. Eine Injektionsnadel sollte es nur dort geben, wo ihr der Arzt Blut abnimmt.
Also haben wir überlegt, dass wir irgendetwas einbauen müssen – ohne Spritze – damit man das versteht. Dann ist uns eingefallen, dass in Pulp Fiction dieser Löffel vorkommt, wo sie das Heroin kochen. Das Bild haben wir gestohlen und als Layout verwendet. Sofort haben die Leute gesagt, ja das ist gut, das verstehen sie jetzt. Und dann haben wir diesen Löffel nachgedreht. Bei mir im Garten. Mein Mann, Walter Kindler, ist ja Kameramann; der hat den gedreht.
Aber vorher mussten wir etwas besorgen, was da so blubbert. Adrian hat seinen Stiefvater gefragt, und der hat vorgeschlagen: Milchpulver und Zitronensäure. Haben wir besorgt und dem Stiefvater ein Foto geschickt, ob das so richtig ausschaut. Doch es war zu wenig braun. Also haben wir noch etwas Betaisodona draufgeschüttet und dann war der Stiefvater zufrieden, dass es wie Heroin ausschaut (lacht).
Ihr habt also auch häufiger Testvorführungen gemacht?
Ingrid Koller:Ja, mehrere kleinere, wo nur vier, fünf Leute gekommen sind, sowohl Filmschaffende als auch Nichtfilmschaffende. Und dann haben wir auch große Vorführungen gemacht, im Kino. Die waren wichtig, denn es gab einen Streit – oder sagen wir mal, eine andere Auffassung von dem Film – mit dem deutschen Koproduzenten, Nils Dünker. Der wollte, dass der kleine Junge eine Off-Stimme bekommt, die seine Gefühle ausdrückt, z.B. ist die Mutter gerade auf Drogen oder nicht, und wie geht es ihm dabei.
Und da war ich strikt dagegen. Ganz strikt. Überhaupt: Off-Stimme – was auch immer da gesagt worden wäre im Text – gehört für mich nicht in so einen Kinofilm; das war für mich unfassbar. Davor haben uns dann die Testvorführungen mit »normalem« Publikum bewahrt, denn die Leute wurden hinterher gefragt: »Haben Sie den Film verstanden? Brauchen Sie eine Erklärung dazu?« Und es bestätigte sich, dass sie keine Erklärung brauchten. Der Koproduzent hat das allerdings nie so ganz eingesehen; ich glaube er findet den Film bis heute schlecht (lacht).
Der Film hat ja eine Menge Preise gewonnen, und Dir nun auch bei Filmplus den – erstaunlicherweise – ersten Schnittpreis Deiner langen Laufbahn eingebracht…
Ingrid Koller:Ja, da war sehr ich glücklich drüber. Vor »Die beste aller Welten« gab es nur einmal eine Emmy-Nominierung. Das war 2006, für die amerikanische Produktion The Ten Commandments, zusammen mit zwei weiteren Editoren. In Österreich war ich bisher nie nominiert, was vielleicht auch an der Art der Filme liegt, die ich geschnitten habe. Das war ja eher kein Arthouse, sondern Unterhaltungsfilme wie Müllers Büro (1986), oder Hinterholz 8 (1998). Zwar habe ich schon auch mal was Ernsteres geschnitten, wie die Oper La Bohème (2008). Aber ich bekam nie eine Nominierung. Also empfinde ich diesen Preis jetzt auch ein bisschen wie eine Anerkennung für meine ganze Karriere.
Interview: Dietmar Kraus